Juschno Sachalinsk
48° Nord
ein Breitengrad 2050
Zukunftserzählungen
Entfernung: 11.124 km
bisher gefahrene Tage: 73
Laune: grad noch entspannt
Juschno Sachalinsk, Insel Sachalin, 4. August 2050
Wenn Sie meinen Nachruf schreiben, morgen, nächstes Monat oder im kommenden Jahr. Wird da vielleicht stehen: URSULA KNOLL HINTERLÄSST ZWEI UNGEZOGENE ENKELINNEN IN IRGENDEINEM GOTTVERLASSENEN WINKEL AUF DEM ACHTUNDVIERZIGSTEN BREITENGRAD NÖRDLICHER BREITE. UND EINEN HUND.
Nun gut, ist es meine Schuld, dass diese Gören so anstrengend sind? Bei den eigenen Kindern muss man sich so einen Vorwurf ja vielleicht noch gefallen lassen. Aber bei den Enkelinnen? Nein. Wirklich nicht. Da kann man sich gerne an die betreffenden Eltern, Lehrer und Freizeitpädagoginnen wenden, die diese Kinder verhätschelt, missachtet oder sonstwie beamtshandelt haben. Verstehen Sie mich nicht falsch. Mein Großmutterherz glüht rot und kräftig. Aber wenn Sie mit diesen beiden Damen auf der Insel Sachalin im fernen Osten von Russland festsäßen, dem wirklich letzten Zipel des europäischen Kontinents, bevor sich der achtundvierzigste Breitengrad Abertausende von Seemeilen durch den Pazifischen Ozean weiterzieht .Sie würden mir zustimmen.
Juschno-Sachalinsk heißt das Kaff. Für die Verhältnisse hier eine Großstadt. Reich geworden durch Öl. Sie erinnern sich doch noch? Erdöl, damit war zu Anfang des Jahrhunderts noch jede Menge Geld zu machen. Kaum zu glauben, wie die Zeit vergeht und der Wandel alles mitreißt. Das bisschen Öl, was jetzt noch in den Erdritzen ist, lockt keinen Hund mehr hinten dem Ofen hervor. Das hätten sich die Menschen in meiner Jugend nicht träumen lassen. Da gab es nur Überfischung, Verschmutzung, Krebs. Wie wir alle geraucht und gesoffen haben!
Und heute? Nachhaltiger Fischfang, Ökotourismus, alle gehen Kajak fahren oder wandern. Eine beschauliche Insel im Ochotskischen Meer. Ein lauer Sommernachmittag, keine Spur von der überhitzten Gereiztheit, die sich inzwischen in den steppenheißen Sommern in Mitteleuropa ausgebreitet hat.
Angenehmer Wind weht vom Ozean herüber. Die Kellnerin bringt mir einen Caffe Latte.
Mara war heute Nacht nicht im Hotel. Es ist immer schlecht, wenn sich Jugendliche in der Nacht herumtreiben. Es ist noch schlechter, wenn sie es nicht alleine tun. Josephine rollt nur mit den Augen. Sie wisse nicht, wo ihre kleine Schwester steckt. Und außerdem sei das auch gar nicht ihre Aufgabe.
Sie lässt mich stehen und geht eine rauchen. Dass junge Menschen das überhaupt noch tun. Hat der Fitnessfimmel sie nicht alle fest im Griff? Schließlich ist das 21. Jahrhundert das Zeitalter der Biotechnologien. Selbstoptimierung und Gesundheit gar kein Ausdruck. Gut, Josephine ist eine Rebellin. Was ich immer sein wollte. Nur eben zu feig. Also vielleicht schreiben Sie morgen in meinen Nachruf: URSULA KNOLL, REBELLIN, HINTERLÄSST EINE UNGEZOGENE ENKELIN IN IRGENDEINEM GOTTVERLASSENEN WINKEL AUF DEM ACHTUNDVIERZIGSTEN BREITENGRAD NÖRDLICHER BREITE KURZ VOR DEM PAZIFIK. FALLS SIE DIE ZWEITE ENKELIN FINDEN, BRINGEN SIE SIE BITTE ZU IHRER SCHWESTER. DORT STEHT AUCH DER CAFFE LATTE.
JOSEPHINE
Was machen wir, wenn Mara nicht wieder auftaucht?
URSULA
Also doch?
JOSEPHINE
Was?
URSULA
Ist es dir nicht egal?
JOSEPHINE
Wolltest du nicht mit dem nächsten Schiff über den Pazifik?
URSULA
Du nicht?
JOSEPHINE
Ich könnte mich hier für Meereswissenschaften einschreiben.
URSULA
Klar.
JOSEPHINE
Oder russische Literatur.
URSULA
Sachalin. Die Verbannungsinsel des russischen Zaren. Wo man mit Peitschen und Ruten züchtigt. Tschechow schrieb einen ganzen Reisebericht darüber.
JOSEPHINE
Was du alles Unnötiges weißt.
URSULA
Wieso? Ist doch interessant. Das unterrichten die hier sicher.
JOSEPHINE
Hat der Hund gut gegessen?
URSULA
Keine Ahnung.
JOSEPHINE
Hast du ihn nicht gefüttert?
URSULA
Warst nicht du an der Reihe?
JOSEPHINE
Oma, echt.
URSULA (ruft)
Bruno! Bruno!
JOSEPHINE
Im Ernst jetzt? Deine Enkelin haut ab, der Hund ist nicht gefüttert, und du redest von Züchtigung?
URSULA
Na bin ich eure Mutter?
JOSEPHINE
Und wo ist jetzt der Hund?