Mother loves you
Mutter und Sohn.
Eine Küche.
40 Jahre, die vergehen.
Der Sohn altert.
Die Mutter geht in der Zeit zurück, wird wieder jung.
Zeitebenen und Rollen verwischen.
Die Beziehung intim, lästig, lebenswichtig, nebensächlich.
Mutter liebt dich.
Mother loves you
(2024)
Uraufführung Dschungel Wien
Performance mit Videoinstallation
20. Mai 2024, 19.30h
Idee, Konzept, Regie, Schauspiel: TWOF2 (Maria Spanring, Giovanni Jussi), Produktion: Simon Hajos
Text: Ursula Knoll
-
Frühstück
ADA, 55
RAPHAEL, 15
Raphael richtet eifrig ein Stück Kuchen auf einem Teller an. Ada sitzt und starrt ins Leere.
Raphael stellt Ada den Kuchen hin. Ada lächelt bemüht.
Nichts passiert.
RAPHAEL
Warte. Vergessen.
Raphael holt eine kleine Gabel und einen kleinen Löffel und hält sie Ada hin. Ada reagiert nicht. Raphael tanzt mit dem Besteck.
RAPHAEL
Mama!
Ada reagiert nicht.
RAPHAEL
Löffel oder Gabel?
ADA
Adam hat immer einen Aufstand gemacht, erinnerst du dich? Wenn man dem einen Löffel zum Kuchen hinlegte. Bam! Der ganze Mensch verkannt. In seinem Wesen missachtet. Dann bäumte sich der Löffel auf, löste sich aus seiner Faust, wählte die Flugbahn links an der Küchenlampe vorbei und krachte hier in die Ecke.
Ada lacht, Raphael hält ihr Löffel und Gabel hin.
RAPHAEL
Hättest du mit Löffeln geschmissen, könnte ich mich jetzt erinnern.
Ada nimmt die Gabel. Raphael lächelt zufrieden, schiebt ihr den Kuchen näher hin.
Ada starrt weiter vor sich hin.
RAPHAEL
Nur ein paar Bissen.
Ada reagiert nicht.
RAPHAEL
Komm, Mama.
Ada schiebt den Kuchen weg.
Raphael schiebt den Kuchen wieder näher hin.
RAPHAEL
Hab ich gestern selbst gebacken.
Ada nickt anerkennend, schiebt den Kuchen weg.
Raphael schiebt den Kuchen wieder näher hin.
RAPHAEL
Mama, bitte. Sonst hast du ja keine Kraft.
Ada schiebt den Kuchen weg.
RAPHAEL
Hat Zeynep angerufen?
ADA
Nein.
RAPHAEL
Hast du sie angerufen?
ADA
Nein.
RAPHAEL
Andere Mütter haben auch schöne Töchter.
ADA
Geh bitte.
RAPHAEL
Hat meine Mathelehrerin gesagt. Letztes Jahr. Als Simone mich wegen Jakob...egal.
ADA
Aber ich bin ja keine fünfzehn mehr.
RAPHAEL
Na und?
Schweigen.
RAPHAEL
Magst du noch einen Kaffee?
Ada schüttelt den Kopf.
RAPHAEL
Kuchen?
ADA
Bitte, Raphael, nerv mich nicht.
RAPHAEL
Zucker ist gut für die Nerven.
ADA
Ich weiß selbst, was gut für mich ist!
RAPHAEL
Du wirst immer dünner.
ADA
Bitte sorg dich nicht.
RAPHAEL
Warum rufst du Zeynep nicht an?
ADA
Sicher nicht.
RAPHAEL
Aber sie liebt dich doch.
ADA
Und deswegen schläft sie mit dieser Frau?
RAPHAEL
Hat sie?
Ada zuckt mit den Schultern.
RAPHAEL
Hat sie das gesagt?
Ada schüttelt den Kopf.
RAPHAEL
Das glaube ich nicht.
ADA
Was weißt du schon?
RAPHAEL
Das passt doch gar nicht zu ihr.
ADA
Kann man in Menschen hineinsehen?
RAPHAEL
Das hätte sie dir doch erzählt.
ADA
Wir sind getrennt.
RAPHAEL
Aber natürlich hätte sie dir das erzählt.
ADA
Raphael, bitte, nerv mich nicht.
RAPHAEL
Aber das ist doch klar, dass sie dir so etwas erzählt hätte.
ADA
Also bilde ich mir das ein?
RAPHAEL
Wahrscheinlich.
ADA
Und da kennst du dich aus?
RAPHAEL
Du isst ja nichts den ganzen Tag.
ADA
Was hat denn das Essen damit zu tun, dass Zeynep jetzt wahrscheinlich mit einer von ihren Praktikantinnen rummacht? Als wäre sie fünfzehn!
RAPHAEL
Ich mache mit keinen Praktikantinnen rum.
ADA
Die waren doch immer wie die Schmeißfliegen. Alle.
Raphael schiebt ihr den Kuchen hin.
RAPHAEL
Du musst essen.
Ada schiebt den Kuchen weg.
Rapahel schiebt ihr den Kuchen hin.
RAPHAEL
Nur ein paar Bissen.
Ada schiebt den Kuchen weg.
ADA
Was will sie denn von so einer?
RAPHAEL
Und selbst wenn? Wolltest du nie ausbrechen, die letzten neun Jahre?
ADA
Acht Jahre. Adam war achtzehn, als sie kam.
RAPHAEL
(resigniert) Adam. Immer nur Adam.
ADA
Oder neunzehn?
RAPHAEL
Ich war damals drei.
ADA
Nein. Achtzehn.
RAPHAEL
(zornig) Drei. Ich war drei! Glaubst du, für mich ist das leicht? Meine zweite Mama ist weg. Du bist dein eigener Schatten. Adam kümmert sich einen Scheiß. Aber du redest von nichts anderem als immer nur von ihm.
Ada schiebt ihm den Kuchen hin.
Raphael schiebt ihr den Kuchen hin.
ADA
Hat er dich angerufen?
RAPHAEL
Nein.
ADA
Dann ruf du ihn doch an.
RAPHAEL
Nein.
ADA
Geht das immer noch so mit euch?
RAPHAEL
Er kann sich gern bei mir melden, wenn ihm danach ist.
ADA
Klär das mit ihm.
RAPHAEL
Es gibt nichts zu klären.
ADA
Ich kann das nicht immer für euch tun.
RAPHAEL
Du musst nichts tun.
ADA
Dann ruf ihn an.
RAPHAEL
Er hat meine Nummer.
ADA
So geht das nicht weiter mit euch.
RAPHAEL
Ah nein?
ADA
Nein. Ruf ihn an.
RAPHAEL
Nein.
ADA
Was ist denn schon wieder passiert?
RAPHAEL
Nichts ist passiert.
ADA
Dann ist ja alles gut.
RAPHAEL
Ja. Alles ist gut.
ADA
Fein.
Schweigen.
ADA
Ich kann doch nicht die Einzige sein, die ständig etwas erzählt.
RAPHAEL
Du erzählst doch nichts.
ADA
Natürlich.
RAPHAEL
Nein.
ADA
Ich habe dir doch eben etwas erzählt.
RAPHAEL
Was denn?
Schweigen
Raphael nimmt den Kuchen samt Teller und Besteck und schmeißt alles in den Mist.
RAPHAEL
Glaubst du, du bist die Einzige, die etwas vermisst?
# Nutzlose Erkenntnisse zur Elternschaft, Versuch 1
Du erwartest, dass die Erzählung, die du dir machst, durch Aufschub und Schließung sinntragend wird. Am Ende wird aufgeklärt, heimgekehrt, gestorben oder geheiratet, und dabei wird dann auch der Sinn des Ganzen deutlich. Du stehst auf, machst dir ein Frühstück, machst dir ein Mittagessen, machst dir ein Abendessen, gehst schlafen, stehst auf, machst dir ein Frühstück. Nur der Sinn bleibt aus. Er ist das, was sich verkriecht, wenn er von deinen Flausen hört.
2. Mittagessen
ADA, 40, schwanger mit Raphael
RAPHAEL, 28
Raphael steht am Herd und kocht.
Ada öffnet eine Flasche Sekt. Es knallt.
ADA
Komm her. Stoßen wir noch einmal an!
RAPHAEL
Hast du nicht schon genug?
ADA
Du heiratest doch nur einmal.
RAPHAEL
Du lallst ja fast schon.
ADA
Entspann dich.
RAPHAEL
Ich bin entspannt.
ADA
Fein. Komm. Wo ist dein Glas?
RAPHAEL
Ich mag nicht.
ADA
Auch gut.
Ada schenkt sich ein, prostet ihm zu.
ADA
Woher hast du nur dieses Zwängliche?
RAPHAEL
Was? Weil ich mich um 12 Uhr Mittag nicht ansaufe?
ADA
Wir feiern doch!
Raphael nimmt Ada das Glas aus der Hand. Deutet auf ihren Babybauch.
RAPHAEL
Vielleicht gehst du es langsam an?
Ada nimmt sich das Glas.
ADA
Wir essen doch gleich.
RAPHAEL
Ich mein ja nur.
ADA
(streicht Raphael über den Kopf, dann über ihren Babybauch) Mach dir doch nicht immer so einen Kopf. Wegen ein, zwei Gläsern Sekt? Das hat dir nicht geschadet! Du bist doch groß und klug geworden. Komm, jetzt stoß mit mir an!
Raphael nimmt sein Glas, sie stoßen an.
ADA
(schüttelt den Kopf) Das muss ich auch erst verdauen…Er heiratet…
RAPHAEL
Judith kommt später auch noch.
ADA
Schön!
RAPHAEL
Sie tut mir gut, weißt du.
ADA
Schön.
RAPHAEL
Und deswegen. Also.
ADA
Du musst dich nicht rechtfertigen.
RAPHAEL
Tu ich gar nicht.
ADA
Okay.
RAPHAEL
Aber mir ist es eben wichtig.
ADA
Es ist dein Leben.
RAPHAEL
Ja.
ADA
Du sollst glücklich sein.
RAPHAEL
Das bin ich.
ADA
Na dann.
RAPHAEL
Aber du findest es spießig?
ADA
Das habe ich nicht gesagt.
RAPHAEL
Zu konventionell.
ADA
Es ist eure Entscheidung.
RAPHAEL
Aber ich mag, dass du dich freust.
ADA
Ich freu mich doch.
RAPHAEL
Wirklich?
ADA
Schau, es ist dein Leben.
RAPHAEL
Das hast du schon gesagt.
ADA
Eben.
RAPHAEL
Also freust du dich nicht?
ADA
Wenn du das so für dich entscheidest.
RAPHAEL
Also nein?
ADA
Es ist doch deine Entscheidung.
RAPHAEL
Aber kannst du nicht ein bisschen mitfühlen?
ADA
Wir feiern doch!
RAPHAEL
Nein. Ich meine.
ADA
Du willst meinen Segen?
RAPHAEL
Nein.
ADA
Na dann.
RAPHAEL
Warum kannst du dich nicht einmal für mich freuen?
ADA
Dass du sehenden Auges in die Falle rennst?
RAPHAEL
Was für eine Falle?
ADA
Die Ehe.
Dein Vater und ich (lacht).
Wir hätten uns eher das Bein abgehackt, als zu heiraten. Freigeister, die wir waren.
RAPHAEL
Es ist heute anders als damals.
ADA
Wirklich?
RAPHAEL
Das verstehst du nicht.
ADA
Vielleicht gehst du es einfach sehr schnell an?
RAPHAEL
Nur, weil du gerade meinen Vater verlassen hast und jetzt mit zwei Kindern allein dastehst?
ADA
Adam wird mithelfen.
RAPHAEL
Er ist fünfzehn!
ADA
Er wird vernarrt werden in dich.
RAPHAEL
Wann kommt der überhaupt aus seinem Zimmer raus?
ADA
Gib ihm einfach ein bisschen Zeit.
Raphael nimmt den Topf, will den Inhalt in das Waschbecken kippen, Ada hält ihn ab.
RAPHAEL
(schreit) Was machst du überhaupt ein zweites Kind, wenn du dich dann nie mit ihm freust?!
ADA
(schreit) Aber ich freu mich doch für dich! Ich muss nur nicht alles, was mein Sohn tut, ergeben gutheißen.
Ada nimmt Raphael die Schürze ab, wickelt sich die Schürze selbst rum, stellt den Topf zurück an den Herd und beginnt umzurühren.
ADA
Ihr könntet doch auch noch schauen.
RAPHAEL
Ich liebe sie.
ADA
Die Liebe!
RAPHAEL
Ja, Liebe!
ADA
Es gibt keine Sicherheit im Leben.
RAPHAEL
Was? Weil ich nicht so ein chaotisches Leben wie du führen will?
ADA
Weil du alles einzäunst.
RAPHAEL
Was ist denn daran so schlimm?
ADA
Nichts ist schlimm.
RAPHAEL
Warum freust du dich denn dann nicht?
ADA
Ich freue mich.
RAPHAEL
Tust du nicht.
ADA
Das ist sinnlos.
RAPHAEL
Ja. Ist es.
ADA
Also, stoßen wir jetzt wenigstens auf dich an?
Raphael zögert. Dann schenkt er sich ein Glas ein, stürzt den Sekt runter. Schenkt sich ein zweites Glas ein. Stürzt es runter. Pause. Dann schenkt er sich und Ada nochmals ein.
RAPHAEL
Okay.
ADA
Okay.
RAPHAEL
(zynisch) Mutter liebt mich.
ADA
(umarmt ihn) Komm her. Ja. Mutter liebt dich.
RAPHAEL
Auf den Zaun!
ADA
Auf die Liebe!
# Nutzlose Erkenntnisse zur Elternschaft, Versuch 2
In dem Alter, wo du noch alle Frisör-, Fitnessstudio- und Shoppingangelegenheiten wichtig genommen hast und dauernd in den Spiegel blicktest (oft auch Schaufenster, auf den Gehsteigen, die ganze Stadt voll davon), hast du dir oft vorgestellt, wie du dein Leben verbringen möchtest. Aufregung und Gelassenheit, Liebe und Erfolg, alles möglichst ausgewogen und voneinander getrennt. Stößt du bei irgendeiner Sache auf unverhältnismäßige Schwierigkeiten, lässt du sie einfach liegen; denn du findest einen besseren Weg oder etwas anderes oder hast es ohnehin schon vergessen. Du steckst deine Ziele nah von dir, damit du möglichst viele erreichst. Denn das Leben ist kurz und du hast gelesen, dass das, was du erreichst, die Seele formt, während das, was du ohne Erfüllung willst, sie nur verbiegt. Du achtest verbissen auf die Gleichgewichte, alle. Dass dir keines entgleitet und zu einem Ungleichgewicht wird, an dem du abrutscht. Einen Hang hinunter. Sozialer Abstieg oder auch nur ein enttäuschter Traum. Denn die nagen. Bis ins Fleisch.
3. Abendessen
ADA, 25
RAPHAEL, 35
Beide sitzen mit Laptop am Tisch.
Raphael trägt eine Pyjamahose, darüber Sakko mit Krawatte.
Am Tisch stehen Käsebrot, Essiggurkerl, Cocktailtomaten, Babyfläschchen.
Ada und Raphael stopfen alles unaufmerksam in sich rein, während sie in ihre Laptops starren.
ADA
Wie spät ist es?
RAPHAEL
Weiß nicht. Draußen ist es schon dunkel.
ADA
Dein Vater sollte längst da sein.
RAPHAEL
Das sagst du jeden Tag.
ADA
Ich brauche einmal drei, vier Stunden am Stück, damit ich mich in das Kapitel reindenken kann.
Raphael bekommt einen Videocall, setzt sich ein Headset auf.
RAPHAEL
Ja? (Pause) Okay. Ja, gut. Nein, kein Problem. (Pause) Okay. Gut. Nein, nein. Kein Problem. Ich mach die Analyse noch fertig. Ja. Passt. Ja, okay, morgen um 10.
Raphael legt auf.
RAPHAEL
Wie stellt der sich das vor?! Da sitze ich bis Mitternacht!
Aus dem Nebenzimmer schreit ein Baby. Ada steht auf, nimmt das Fläschchen, verschwindet. Raphael tippt wütend in seinen Laptop. Das Schreien hört auf. Ada kommt zurück, setzt sich zurück an den Laptop.
ADA
Wo ist der Text hin?
RAPHAEL
Was?
ADA
Na das Unterkapitel, das ich gerade angefangen hab.
RAPHAEL
Was für ein Unterkapitel?
ADA
2.3.1. Stehende mechanische und elektromagnetische Wellen.
RAPHAEL
Keine Ahnung.
ADA
Das kann ja nicht weg sein!
RAPHAEL
Ist der Akku leer?
ADA
Das gibt’s nicht. Kann ich dein Ladekabel ausborgen?
RAPHAEL
Ich muss aber das Paper da fertig bringen.
ADA
Nur zehn Minuten.
RAPHAEL
Weil der glaubt, dass die Welt aufhört sich zu drehen, ohne sein Paper.
ADA
Wer?
RAPHAEL
Phillip.
ADA
Also kann ich jetzt das Ladekabel haben?
Aus dem Nebenzimmer schreit das Baby. Ada geht rüber.
Raphael bekommt einen Videocall, setzt sich ein Headset auf.
RAPHAEL
Ja? (Pause.) Ich weiß. (Pause) Nein. Ich muss leider. (Pause) Ja, ich weiß, was ich gesagt habe. Aber Phillip hat gerade... (Pause) Dafür hole ich sie morgen von der Tagesmutter ab…(Pause) (gereizt) Sie geht eh immer nur mit dir schlafen, bei mir schreit sie doch nur!
Das Baby schreit nicht mehr. Ada kommt zurück.
ADA
Wo ist jetzt das Kabel?
RAPHAEL
Welches Kabel?
ADA
Das Ladekabel.
RAPHAEL
Ach so, ja.
Raphael steckt seinen Computer ab, gibt Ada das Ladekabel. Dabei stößt er die Essiggurkerl um, Teller und Besteck fallen auf den Boden.
ADA
(herrscht ihn an) Was machst du? Du weckst ja Adam auf!
Das Baby schreit. Ada geht ins Nebenzimmer.
Raphael bekommt einen Videocall, setzt sich ein Headset auf. Während er zuhört, bückt er sich, klaubt die Teller und Gurkerl auf, hält alles in der Hand.
RAPHAEL J
a? (Pause) Ja. Okay. Nein, hab ich noch nicht gesehen, ich check gleich die Mails. Okay. (Pause) Nein, die Daten kann ich dafür nicht mehr einbauen, das würde die ganze Nacht…(Pause) Nein, ich mache eine Zusammenfassung und den Rest dann morgen…Philipp?...Bist du noch da?
Das Baby schreit nicht mehr. Ada kommt aus dem Nebenzimmer. Sie nimmt Raphael die Scherben aus der Hand und wischt ihn ab.
Raphael legt das Headset weg.
Sie räumen alles gemeinsam auf. Raphael bekommt einen Videocall, setzt sich sein Headset wieder auf.
RAPHAEL
Ja? (Pause). Ja. Ich weiß. Okay. Ja, es tut mir leid, aber …. Nein, ich muss das bis morgen… (Pause). Nein, ich kann nicht einfach so nein sagen. (Wütend) Wie stellst du dir das vor? Dann haut er mich raus. (Pause) Was? Was rufst du dann an? Leg Emilia halt schlafen, wenn sie dauernd schreit…(Pause) Judith? (drückt auf dem Laptop herum) Judith! Bist du noch da?
Raphael reißt sich das Headset runter, stopft es zu den Scherben in den Mistkübel dazu.
RAPHAEL
Wie schaffst du das? Dein Studium, das Kellnern und das Kind?
ADA
Dein Vater sollte längst da sein.
RAPHAEL
Adam hat erzählt, er hat kaum Erinnerungen an ihn.
Ada zuckt mit den Schultern.
RAPHAEL
Er hat deswegen irgendwann mal so eine Familienaufstellung gemacht.
ADA
Ja?
RAPHAEL
Denk ich.
ADA
Wenn er daran glaubt.
Raphael bekommt einen Videocall, schaut auf den Bildschirm, klappt genervt den Laptop zu.
RAPHAEL
Wie hältst du das aus?
ADA
Ich dachte, Adam schläft die meiste Zeit und ich vertue mich nicht bei meinem Auswertungsverfahren.
RAPHAEL
Nein, in echt, mein ich. Wie schaffst du das?
ADA
Schlafen werde ich, wenn Adam in den Kindergarten kommt.
RAPHAEL
Und dann die Dissertation auch noch?
ADA
Soll ich mich abhängen lassen, wegen dem Kind?
RAPHAEL
Warum sagst du ihm nicht, dass er mehr tun soll?
ADA
(lacht auf, zuckt mit den Schultern) Zeynep macht am Samstag eine Party. Wenn das Unterkapitel bis dahin halb fertig ist, werde ich fix endlich einmal tanzen gehen.
Das Baby weint. Ada will aufstehen, Raphael springt auf, deutet ihr sitzen zu bleiben und geht ins Nebenzimmer.
ADA
(ruft ihm hinterher) Was machen wir jetzt, ohne Essiggurkerl, die ganze Nacht?
# Nutzlose Erkenntnisse zur Elternschaft, Versuch 3
Was redest du für Zeug, Mama? Raphael fällt dir ins Wort, aufbrausend, altklug. Gut, du bist nicht mehr ganz jung, aber auch nicht so alt, dass es angebracht wäre, Bilanz zu ziehen. Zwischenbilanz, maximal. Aber auch das ist ja eher aufreibend und ungesund.
Jetzt sitzt er da. Nicht mehr ganz jung. Zieht seine Zwischenbilanz. Er weiß noch nicht, was Emilia ihn lehren wird. Was er mich gelehrt hat: Die Verwundbarkeit, die dir ein Kind zufügt, wirst du nie wieder los.
Du schreist es an, du bemutterst es, du umarmst es, bis es keine Luft mehr bekommt, du bedeckst es mit Küssen und Belehrungen, bis es anfängt zu jammern, zu lachen, sich von dir zu entfernen. Du erkennst dich nicht. Während die Falten, Muttermale und Knorpelabnützungen von deinem Körper Besitz ergreifen, stößt du das Kind hinaus. Du tust, als würdest du es ziehen lassen, und wirst fahrig, wenn es dir aus dem Blick gerät. Du fauchst die Welt an, es zu verschonen. Du weißt, dass die Hoffnung, die du dir machst, durch Aufschub genährt wird. Du weißt, dass du sonst verloren wärst.
4. Frühstück II
ADA, 15
RAPHAEL, 55
Raphael trägt einen schwarzen Anzug. Auf dem Tisch steht ein Foto von Adam, mit schwarzer Schleife. Viele Blumen. Essensreste, leere Gläser.
Ada richtet ein Stück Kuchen auf einem Teller an. Raphael sitzt und starrt ins Leere.
Ada stellt Raphael den Kuchen hin. Raphael lächelt bemüht.
Nichts passiert.
ADA
Warte. Vergessen.
Ada holt eine kleine Gabel und einen kleinen Löffel und hält sie Raphael hin. Raphael reagiert nicht. Ada tanzt mit dem Besteck.
ADA
Raphael!
Raphael reagiert nicht.
ADA
Löffel oder Gabel?
RAPHAEL
Adam hat immer einen Aufstand gemacht. Wenn man dem einen Löffel zum Kuchen hinlegte. Bam! Der ganze Mensch verkannt. In seinem Wesen missachtet. Dann bäumte sich der Löffel auf, löste sich aus seiner Faust, wählte die Flugbahn links an der Küchenlampe vorbei und krachte hier in die Ecke.
Raphael lacht, Ada hält ihm Löffel und Gabel hin. Raphael nimmt die Gabel. Ada lächelt zufrieden, schiebt ihm den Kuchen näher hin.
Raphael starrt weiter vor sich hin.
ADA
Nur ein paar Bissen.
Raphael L reagiert nicht.
ADA
Komm, Raphael.
Raphael schiebt den Kuchen weg.
Ada schiebt den Kuchen wieder näher hin.
ADA
Hab ich gestern selbst gebacken.
Raphael nickt anerkennend, schiebt den Kuchen weg.
Ada schiebt den Kuchen wieder näher hin.
ADA
Raphael, bitte. Sonst hast du ja keine Kraft.
Raphael schiebt den Kuchen weg.
ADA
Wenn du nicht schläfst, musst du wenigstens essen.
RAPHAEL
Ich hab gestern bei der Feier gegessen.
ADA
Das ist zwölf Stunden her.
RAPHAEL
Ich kann nicht.
ADA
Nur ein paar Bissen.
RAPHAEL
Zeynep braucht jetzt doch einen Rollator.
ADA
Hab ich gesehen.
RAPHAEL
Sie hat sich lange gehalten.
ADA
Ist sie nicht bald hundert?
RAPHAEL
95.
ADA
Wahnsinn.
RAPHAEL
Aber steht ihr irgendwie. Passend zum Kleid und ihrer Tasche.
ADA
Gestern in der Schule auch. Sie hatte ganz neue Jeans, perfekt zum Pulli und den Schuhen. Alle waren neidig.
RAPHAEL
Du auch?
ADA
(zuckt mit den Schultern) Ich weiß nicht, wie sie das macht. Sie hat einfach Stil.
RAPHAEL
Sie hat viel erzählt. Von Adam und dir.
Schweigen.
ADA
Magst du noch einen Kaffee?
Raphael schüttelt den Kopf.
ADA
Kuchen?
RAPHAEL
Bitte, Mama, nerv mich nicht.
ADA
Zucker ist gut für die Nerven.
RAPHAEL
Ich weiß selbst, was gut für mich ist!
ADA
Du wirst immer dünner.
RAPHAEL
Bitte sorg dich nicht.
ADA
Hast du ihn noch angerufen?
RAPHAEL
Adam?
Ada nickt.
RAPHAEL
Nein. Ich dachte nicht, dass er…
Schweigen. Raphael zupft an den Blumen herum.
RAPHAEL
Ich hab den Steinmetz schon beauftragt. Die Gravur kommt nächste Woche. Rechts neben deinem Namen.
Schweigen.
RAPHAEL
Zeynep sagt, sie will dann auch zu euch dazu.
ADA
Wie viele Menschen passen in so ein Grab?
RAPHAEL
(zuckt mit den Schultern) Solange für mich noch Platz ist.
Schweigen.
ADA
Vielleicht nehmen mich die dort im Sommer.
RAPHAEL
Auf dem Friedhof?
ADA
Ja.
RAPHAEL
Braucht Großmutter wieder Geld?
Ada nickt.
RAPHAEL
Die ganzen Ferien?
Ada nickt.
RAPHAEL
Das tut mir leid.
ADA
Wieso kriegen Menschen Kinder, wenn sie es sich gar nicht leisten können?
RAPHAEL
Sie hat den Krieg mitgemacht.
ADA
Und deswegen muss ich den ganzen Sommer arbeiten?
RAPHAEL
Sei nicht so hart mit ihr.
ADA
Du kennst sie doch gar nicht!
RAPHAEL
Du hast ja auch nie was erzählt.
ADA
Du fragst ja nie etwas.
RAPHAEL
Weil du nichts erzählst.
ADA
Natürlich.
RAPHAEL
Nein.
ADA
Ich habe dir doch eben etwas erzählt.
RAPHAEL
Ja, aber ich mein von früher.
ADA
Sie erzählt nichts von früher.
RAPHAEL
Hast du sie gefragt?
ADA
Nein.
Schweigen.
Ada schiebt ihm den Kuchen hin.
ADA
Du musst essen.
Raphael schiebt den Kuchen weg.
Ada schiebt ihm den Kuchen hin.
RAPHAEL
Nur ein paar Bissen.
Raphael schiebt den Kuchen weg.
ADA
Vom Hungern kommt er auch nicht zurück.
RAPHAEL
Das hat Adam auch gesagt. Vor drei Jahren, als wir dich …
Schweigen.
ADA
Ich werde keine Kinder kriegen.
RAPHAEL
(lacht auf) Das sagt Emilia auch.
ADA
Wirklich nicht!
RAPHAEL
Okay.
ADA
Ich geh studieren.
RAPHAEL
Emilia hat auch grad begonnen.
ADA und RAPHAEL gleichzeitig
Theoretische Physik.
Sie lachen. Schweigen.
RAPHAEL
In ein paar Jahren wird Emilia deine Dissertation verstehen.
ADA
Dann will ich auch ausziehen.
RAPHAEL
Von mir jedenfalls hat sie das nicht.
ADA
Mutti sagt, ich soll lieber was Handfestes machen.
RAPHAEL
Sie sorgt sich halt.
ADA
Sie versteht mich nicht.
RAPHAEL
Großmutter liebt dich.
ADA
Du kennst sie ja gar nicht!
RAPHAEL
Du hast ja auch nie von ihr erzählt!
ADA
Du fragst ja nie etwas.
RAPHAEL
Weil du nichts erzählst.
ADA
Natürlich.
RAPHAEL
Nein.
ADA
Ich hab dir doch eben etwas erzählt.
RAPHAEL
Ja, aber ich mein von früher.
ADA
Hast du mich was gefragt?
RAPHAEL
Nein.
ADA
Warum hast du denn nichts gefragt?
Schweigen.
Raphael nimmt ein Stück Kuchen, schiebt Ada auch ein Stück hin.
RAPHAEL
Du musst auch essen.
Ada zögert, nickt.
Sie essen schweigend.
ENDE