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zum Stück

Eigentlich ist alles ok. Der Nebenjob sichert die Miete und ist auch so, dass dir nicht der Kopf dabei wegschläft. Die Mutter mit ihren Angstzuständen wohnt weit weg in einem anderen Bezirk. Deine WG isst mit dir Eis und fragt, wie es dir geht. Deine Fortbildungsgruppe debattiert über Frontex, Wegschauen, Kriegsrhetorik, Willkommenskultur, Verletzlichkeit. Du lässt sie reden, kritzelst auf deinen Block. Und plötzlich verliebst du dich. Bist irritiert. Und dann zieht in dein altes Zimmer bei deiner Mutter auch noch eine Frau. Irgendeine fremde Frau, die es über die Balkanroute geschafft hat. Etwas reißt auf. Du fällst in ein Loch. Das Loch heißt Angst. Starre, Flucht, Angriff. Ein wildes Umsichschlagen in deinem Kopf und in deinem Herzen beginnt. Was ist denn los mit dir? Und was jetzt?

 

Drei Schauspieler_innen, eine Figur: unsicher, verzweifelt, zerrissen.

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Trailer
Showreel

​​​​​​​​​​​​​​Kollektiv: alternative / escape

Darstell_innen: Sophie Menasse, Yasmin Öztürk, Christoph Sulyok

Regie: Thomas Thalhammer

UA Mai 2017 Dschungel Wien

ANGST

(2017)

(Auszug)

Teil 1: NACH DER ANGST

 

1.

Ich weiß jedes Mal genau, wann es losgeht.

Ich weiß jedes Mal genau, wann es wieder vorbei ist.

Ich weiß es, bevor es die anderen wissen.

Ich bin inzwischen gut geworden.

Ich weiß nicht, ob ich es rieche, oder ob ich es sehe, oder ob ich es höre, oder ob ich es spüre.

Ist ja auch egal.

Ich bin inzwischen richtig gut geworden.

Richtig, richtig gut.

Das Licht im Kellerabteil ist an. Ich weiß nicht, was meine Mutter da drin macht. Bei all dem alten Zeug. Sie könnte sich um mein Fahrrad kümmern. An der Zeit wäre es. Den Schlauch austauschen, einen neuen Reifen aufziehen. Das Ding bricht bald, so porös, wie das aussieht. Oder zusammenräumen. Alles ein riesen Durcheinander. Die Schi liegen irgendwo auf den Blumentöpfen für den Sommer. Darüber ein aufgerissener Sack Blumenerde. Brennholz. Ein Sack Kleiderspenden für die Flüchtlinge. Ein Sack Kuscheltiere für die Flüchtlingskinder. Ein Fahrradrahmen. Drei Winterreifen. Ein uralter Kohleofen. Kisten mit Büchern. Kisten mit Ausstechformen für Weihnachtskekse. Kisten mit Osterzeug. Kisten mit Kisten. Für den Fall, sagt meine Mutter. „Was denn für ein Fall?“ frage ich. Sie schüttelt den Kopf. „Es wird rauer“, sagt sie. „Es wird kälter“, sagt sie. Aha. Ich hätte nicht nachfragen, ich hätte einfach nicken sollen. Oder so tun, als würde ich verstehen, was sie da vor sich hin brummt. „Schaust du keine Nachrichten“, sagt sie, und „du musst dich doch bilden“, sagt sie, und „du musst dich doch auseinandersetzen, mit dem, was da vorgeht, in der Welt“, sagt sie. „Wir müssen vorsorgen“, sagt sie. Ich weiß nicht, wen meine Mutter da vor sich sieht. Ich weiß nicht, was sie glaubt, wie ich lebe. Ich weiß nicht, was sie überhaupt glaubt, wer ich bin. Sie nimmt meine Hand, es ist zu spät, sie zurückzuziehen. „Schaust du gut auf dich?“, fragt sie, „du bist so dünn.“ „Ja, Mama“, sag ich, und weiche ihrem Blick aus. Sie will mich umarmen, ich bücke mich, zerre an den Schi unter dem Blumentopf. „Die werden kaputt da, unter dem Gewicht“, sage ich. Sie sieht mich fragend an. „Groß bist du geworden“, sagt sie und fährt mit ihrer Hand über meinen Hinterkopf. Ich hasse das. Diese ewigen Rätsel. Sie tut, als ob sie mich drei Jahre nicht gesehen hätte. Sie tut, als ob ich die wäre, die dauernd verschwindet.

Ich nehme einen Fetzen, wische den Dreck und den Staub von den Schi. Wie viele Jahre ist das her? Keine Ahnung. Wo leg ich die jetzt hin? Griffbereit? Wozu? Schifahren ist eh Scheiße. Kein Schnee. So teuer. So ein Irrsinn, die Berge zuzubauen mit noch mehr Liften. Für ausgefressene, reiche Menschen. Und diese Scheißmusik dann überall. Aber jedes Mal Turnübungen, wenn ich mein Rad ausparken will. Mich winden wie ein Aal zwischen dem ganzen Zeug, mich reinquetschen, das Rad rausquetschen. Weil wehe, ich stelle es nicht in den Keller. Es wäre weg. Im Hof wäre es weg. Im Gang wäre es weg. Auf der Straße wäre es weg. Wo es nicht überall weg wäre. Da turnen wir lieber. Jede Nacht, wenn es wieder passiert. Und dann wieder, in der Früh, beim Wegfahren. Rausgequetscht, reingequetscht. Ganz großes Tennis.

Ich weiß nicht, wovor sich meine Mutter anscheißt.

Ich weiß nicht, warum sich meine Mutter immer vor allem anscheißt.

Aber ich weiß jedes Mal genau, wann es losgeht.

Und ich weiß jedes Mal genau, wann es wieder vorbei ist.

Ich weiß jedes Mal genau, was zu tun ist.

Ich bin sowas wie eine Fachkraft inzwischen.

Ich könnte mir selbst ein Diplom ausstellen.

Mit einem Stempel.

Ich könnte mir so ein Scheißdiplom über mein Bett hängen, auf dem draufsteht: Feuerwehr.

Feuerwehr für alles.

Rufen Sie an.

Meinetwegen schreiben Sie mir.

Ich weiß jedes Mal genau, was zu tun ist.

Ich weiß es in Sekundenschnelle, und ich bin da, noch bevor Sie wieder aufgelegt haben.

Ausgerüstet, einsatzbereit.

Hellwach.

Nein, es ist gut, ich komme.

Nein, es geht schon, es ist ja nicht weit.

Nein, du hast mich nicht unterbrochen. Ich hab gerade... nichts Wichtiges.

Ich weiß nicht, warum ich zum Handy gehe, wenn ich ihre Nummer sehe.

Ich weiß nicht, warum ich mich nicht einfach tot stelle.

Auf einer Party gewesen sein könnte.

Schon geschlafen haben könnte.

Nein, rufen Sie an.

Nein, es ist gut, dass du angerufen hast.

In einem Projekt versunken sein könnte.

Gegen irgendeine Deadline angearbeitet haben könnte.

Mit irgendwem rumgeschmust haben könnte.

Ich zähle die Nächte nicht mit, die ich nicht schlafe und nicht arbeite und nicht schmuse und nicht auf einer Party bin.

Ich weiß nicht, wann ich aufgehört habe, mitzuzählen.

Nein, ich schlafe nicht, ja ich komm, nein, das Projekt kann warten, ich bin gleich da, du weißt doch, nein, das macht nichts, ja, atme, ich bin schon auf dem Weg.

Da ist es wieder. Ich sehe es, noch bevor sich meine Mutter einen Begriff, irgendeine Art von Konzept davon machen kann, was gerade vor sich geht. Irgendetwas in ihrem Kopf rastet ein. Dann dieser Blick. Dann diese Fahrigkeit. Dann diese Rastlosigkeit. „Ein grauer Acker“, sagt sie, „windschiefe Zelte“, sagt sie, „dahinter ein Stacheldrahtzaun. Und überall Menschen. Die sitzen und schauen.“ Sie streckt sich, greift in die Kiste links oben auf dem Regal, in der wir lose das Fahrradzubehör aufbewahren. Ölfläschchen, Spraydosen, Mischlösungen, neu oder angebrochen. Ihre Finger wühlen darin. „Und überall diese Wörter“, sagt sie, murmelt den Rest des Satzes in sich hinein. Soll ich nachfragen? Ich weiß nicht, nein, lieber nicht. Sie wühlt und murmelt, etwas mit Kette schmieren, etwas mit verkeilen, etwas mit Schmerz.

 

Ich schaue auf das Fahrrad, die Kette sieht ok aus. Der Reifen hat bald einen Patschen, aber bitte, ich halte sie nicht auf. Sie wühlt und murmelt, ich höre nicht hin, sie wühlt und murmelt, eine Ewigkeit murmeln und wühlen, sie zieht ein Ölfläschchen heraus, reißt den kleinen Plastikverschluß herunter, schlägt sich mit dem Ölfläschchen auf den Hinterkopf, immer ungeduldiger, immer fester, ein eigenartiges, stumpfes Geräsuch, mit Daumen und Zeigefinger drückt sie das Fläschchen zusammen, das Öl schmiert sich in ihre Haare, rinnt langsam am Nacken herunter, sie schüttelt den Kopf, von einer Seite zur anderen, immer heftiger, wirft ihn vorne auf die Brust und nach hinten Richtung Schulterblätter, vor und zurück, vor und zurück, die Nackenmuskulatur muss schon ganz steif sein, an ihrer Hand picken ölverschmierte Haare, sie zittert, sie atmet flach, wirft den Kopf immer noch vor und zurück, dann seitlich, von links nach rechts, von rechts nach links, „weißt du“, sagt sie, „weißt du, die Verschlagwortungskette“, sie greift mit beiden Händen an ihren Hinterkopf, hält ihn für einen Moment still, deutet auf ihr Hirn, „ich kenne dieses Geräusch“, sagt sie, „ich kenne dieses Festzurren“, sagt sie, „weißt du“, sagt sie, „die Verschlagwortungskette hat ihren Betrieb aufgenommen“, sagt sie, „die einzelnen Teile der Kette greifen ineinander, ein Schlagwort schlägt in das nächste über, wie ein Weiterschieben eines Impulses, der von einem Glied auf das nächste überspringt, sich dort intensiviert, sich dann festsetzt, zu brennen anfängt, zu jucken anfängt, einrastet, ich höre das Kreischen der beiden Teile, die, aneinander aufgerieben, sich jetzt zu einem Klumpen verkeilen. Schmerz, namenloser Schmerz, und dieser dumpfe, weiße Schleier. Ob ich will oder nicht.“

 

Aha.

Ich weiß nicht, warum ich dastehe wie ein Stock und nichts tue.

Ich weiß nicht, warum meine Mutter auszuckt.

Ich weiß nicht, warum meine Mutter immer so auszuckt.

Ich weiß nicht, warum ich das dauernd tun muss.

Ich weiß nicht, wie ich dazu komm.

Ich weiß nicht, warum ich immer in diesem Scheißkellerabteil nachschauen gehen muss.

Atme, es ist wichtig, dass du atmest.

Saug die Luft ein, ja, saug sie ein.

„Ein Loch in den Schädel bohren“, sagt sie, atemlos, gepresst, „mit einer Plastikspitze einen Knochen aufbohren“, sagt sie, „Öl ins Hirn, damit es geschmeidiger wird“, sagt sie, „damit sich der Impuls nicht festsetzt, damit sich der Impuls zurück in die Richtung bewegt, aus der er herkommt, nicht diese Sprünge macht, keine Verbindungen erzeugt, nicht diese Verbindungen“, sagt sie, „damit sich das Öl in das Flachsige hineinschmiert, bis sich die beiden ineinander verhakten Teile lösen, die Spannung nachlässt, der Schmerz nachlässt, die Dumpfheit zurückweicht.“

 

 

Atme, es ist wichtig, dass du atmest.

Saug die Luft ein, ja, saug sie ein.

Atme.

Ja.

Nein, atme.

Ja eh.

Nein, atme.

Ihre Hände zittern, immer zittern die Hände. Das Gesicht starr, den Blick auf den Boden, die Kiefer fest aufeinandergepresst, wie so ein Beißkorb, wie so ein Beißkorb, der die Backen links und rechts zuschnürt. Nichts geht rein, nichts geht raus. Nur so ein komisches Röcheln. Auf der Brust ein Panzer. Was der Körper alles mitmacht. Ich lege meine Hand auf ihren Rücken, massiere mit der zweiten ihren Nacken, fest, grob. Sie legt das Fläschen in die Kiste zurück, hebt die Kiste auf das Regal, wischt die ölschverschmierten Finger an der Hose ab. Unter ihren Fingernägeln bleibt das Öl picken. Sie hockt sich hin, wischt sich die Haare aus dem Gesicht.  

Atme.

Ja.

Nein, atme.

Ja eh.

Nein, atme.

Lass mich.

Es wird gut.

Ja eh.

Nein, es wird gut.

Was denn?

Alles.

Ja, alles wird gut.

Nein, es wird gut.

Ich weiß.

Ok, dann ist gut.

Ja.

Steh auf jetzt.

Noch nicht.

Komm.

Noch nicht.

Du kannst doch nicht in diesem Kellerabteil rumsitzen.

Ja, gleich.

Es ist wieder gut.

Ja.

Aber steh auf jetzt.

Gleich.

Jedes Mal ist es noch gut geworden.

Ist es das?

Ja, ist es.

Es ist schön, wenn du das sagst.

Steh auf jetzt.

Ich kann nicht.

Bitte.

Ich kann nicht.

Es ist vorbei.

Es tut mir leid.

Das ist verrückt, mit einer Plastikspitze ins Hirn bohren wollen.

Ja, vielleicht.  

Nein, ich meine VERRÜCKT. Was willst du mit einer Plastikspitze? Was willst du denn?

Es ist nicht so schlimm.

So geht das nicht weiter.

Wovon redest du?

Dauernd so in dich hineinfallen.

Es geht schon.

Hörst du mir zu?

Es war doch nichts.

Hör endlich auf damit.

Womit denn?

Mit diesem. Diesem Auszucken.

Es tut mir leid.

Das sagst du dann immer.

Wirklich. Es tut mir leid.

Dann hör endlich auf!

Das verstehst du nicht.

Was versteh ich nicht?

Musst du ja auch nicht.

Was versteh ich nicht?

Es ist gut, wenn dus nicht verstehst.

Was versteh ich denn nicht?!

Komm, ich mach uns einen Tee.

Ich brauch keinen Tee.

Dann einen Kaffee.

Was soll ich denn verstehen die ganze Zeit? Du redest ja nicht.

Welle, Rentabilität, Obergrenze, Ausweisung, Geburtenrate, Anhaltelager.

Was redest du?

Was sind das für Menschen, die überflüssig gemacht werden? Was sind wir für Menschen, die überflüssig machen? Das frag ich mich.

Aha, das fragst du dich.

Ja, das frag ich mich.

Das nennst du fragen, dir selbst so weh zu tun?

Was meinst du?

Mama, ich kann das nicht mehr.

Was denn?

Hör auf mit diesen Rätseln. Sei endlich normal.

--- (lacht)

Das findest du komisch?

---

Warum lachst du?

---

Hör auf.

Ich kann nicht.

Hör auf.

Entschuldige.

Hör sofort auf.

Was ist denn normal, mein Schatz?

Meinst du das jetzt ernst?!

Komm, reg dich doch nicht immer gleich so auf.

​​​​​​​2.

Wir brauchen ein utopisches Bewusstsein.

 

Wir brauchen einen Zaun.

 

Wir brauchen Abwehrraketen.

 

Wir brauchen Mitgefühl.

 

Wir brauchen neue Ideen.

 

Wir brauchen neue Formen des Widerstands.

 

Alle haben eine Meinung. Jeder Idiot hat heute gleich irgendeine Position. Zu allem. Seit Monaten dasselbe Gerede. Aber niemand redet. „Was denken Sie, was wir brauchen?“ Diese Seminarleiterin sieht mich an. Was will die? Was hat der letzte Idiot gesagt? Weiß ich nicht mehr. Nicht zugehört. „Eine Pause“, sag ich. Irgendwer kichert. „Was für eine Pause?“, fragt sie. „Weiß nicht, eine Pause eben“, sage ich. Gibt es Arten von Pausen? Was will die denn? Am liebsten eine Rauchpause, aber das sage ich nicht. Am liebsten eine Denk- und Rede- und Fühlpause. Aber das sage ich nicht. Eine Pause in der Pause. Oder eher so eine Art Koma für alle. Das sollte ich sagen.

 

Sie schweigt mit mir. Eine halbe Ewigkeit. Ist die ausdauernd. Aber Schweigen kann ich auch. Such dir irgendwen von diesen ambitionierten Kolleginnen und Kollegen. „Was brauchen Sie denn?“ fragt sie. Was ich brauche? Ruhe, das brauche ich. Dass du mich in Ruhe lässt, das brauche ich. Kann bitte irgendwer irgendwas sagen, damit die mich in Ruhe lässt?

Wir brauchen ein sicheres Europa.

 

Wir brauchen mehr Überwachung.

 

Wir brauchen eine neue Aufklärung.

 

Wir brauchen einen Damm.

 

Wir brauchen eine Schaufel und ein Buch.

 

Wir brauchen einen Gegendjihad.

 

Hat der das grad wirklich gesagt? Endlich. Danke. Sie lässt von mir ab. Soll sie sich auf den stürzen. Trottel. Hat der das grad echt gesagt?

Jetzt müssen wir hier sitzen und das durchdiskutieren. Stunden. Eine zweite Fortbildung. Wahrscheinlich. Eine dritte Fortbildung. Vermutlich. Weil ein Risiko. Gefährdet, abzugleiten und zu verschwinden. Gefährdet, sich zu verrennen, in irgendeine Idee. Und dann ohne Halt und ohne Hirn geradeaus drauflos. Das steckt an. In einer Kollegenschaft, unterschätzen Sie das nicht. Was muss ich da dabeisitzen.

 

 

Soll er doch. Sollen sie sich doch alle ihre Köpfe gegen einander schlagen. Wenn er das braucht. Was soll ich mit dem diskutieren? Die Seminarleiterin gestikuliert viel. Bis jetzt war da nur ihr ausdrucksloser Mund, der Körper ruhig, nicht einmal besonders viel Mimik, ein fades Gesicht. Jetzt geht irgendwas durch mit ihr. Wie zwei große Fangarme, als wollte sie ihn nicht mehr loslassen. So sieht das aus. Als wollte sie ihn darin zur Vernunft quetschen. Als wollte sie ihn auf eine passende Größe zusammenstutzen, glattstreichen, einfassen.

 

 

Er wird still. Dass der einmal nichts erwidert. Sonst hat er meistens das letzte Wort. Provoziert, große Klappe, weiß immer alles. Und kommt dann mit Opferstolz. Jetzt sagt er nichts mehr. Es ist so still. Wieso sagt denn niemand etwas? Wieso sitzen alle da und stieren in den Boden? „Wir brauchen eine Pause von dem ... von dem...“, sag ich. Und will den Satz an einem Seil zurückziehen, in meinen Mund zurückstopfen, die Lippen fest zupressen, runterschlucken. Nicht rülpsen. Gar nichts rauslassen. Ihr Blick lässt von ihm ab. Sie kommt näher. Jetzt ist es zu spät. Sie wird sich auf mich eingeschossen haben, noch bevor sie sich vor mir aufgebaut haben wird. Sie wird an dem Seil hängen, das da aus meinem Mund raussteht, sie wird daran ziehen und es nicht mehr loslassen.

Können wir etwas anderes tun?

Andere Fragen?

Es steht mir bis da.

 

„Was denn für Fragen?“ fragt sie. Weiß ich das? Bin ich die, die hier das Programm macht? Andere halt. Oder besser noch gar keine. „Warum es besser ist, gegen Menstruationsbeschwerden nicht aufzubegehren“ sagt der Trottel. „Warum es besser ist, beim Sport nur gegen mich selbst zu wetten“ sagt der Trottel. Irgendwer kichert. Er zwinkert mir zu. Da ist er wieder, sein provozierender Ton. Sind wir jetzt ein Team? Bin ich jetzt mit dem auf einer Seite? Nein, bin ich nicht. Warum halt ich nicht einfach den Mund.

 

Wäre auch vorbei gegangen, der Tag. Wieso schau ich nicht den Wolken beim Vorbeiziehen zu. Wären auch vorbeigezogen. Einfach so. Den Wolkenschatten an der gegenüberliegenden Hauswand beobachten. Wie er von einer Seite zur anderen wandert, dichter wird, dann wieder löchrig. Wie er dann die Wand freigibt. Wie das jeden Tag anders aussieht, die gleichen Wolken auf der gleichen Wand. Ich bin nicht auf deiner Seite. Ich bin auf gar keiner. Man sieht es in ihrem Gesicht, wie es abgeht, hinter der Stirn, die Falte an der Nasenwurzel. Ich bin nicht auf seiner Seite. Ich bin auf gar keiner.

 

Na bitte. Sie hat schon irgendeinen Einfall. Man kann es fast zischen hören, wie wenn sich irgendwas in ihrem Hirn losgelöst hätte, von einer schemenhaften Idee zu einem Entschluss verfestigt. „Ein Vorschlag“ sagt sie. Ich höre Projektidee. Ich höre Zeit zum gemeinsamen Nachdenken. Ich sehe meine Vorgesetzte zustimmend nicken. Was? Nein! Mit dem? Warum?

 

Was wir brauchen. Was ich brauche. Was du brauchst. Was sie braucht. Was er braucht. Was ihr braucht. Was wir brauchen.

 

Andere Mütter haben ihren Kindern die Hausaufgabenärmlinge gestrickt oder den Hausaufgabentopfuntersetzer gesägt.

Ich habe jede Blumenampel selbst gehäkelt. Die Lockenwicklerleuchtkette selbst aufgefädelt. Sogar dieses Türschild aus Ton gebrannt. Konzipiert mir meine Mutter jetzt dieses Drecksprojekt? Das wär doch was, für ihre Rätsel. Die könnte sie alle in Fragen verpacken, Argumente finden und dazu kleben, und dann auch noch aus dem Leben erzählen.

 

Weil hätte ich gestern ferngesehen, wie ich es vorhatte, wär mir das heute nicht passiert. Ich hätte die Schattenwand beobachtet, und niemand würde davon ausgehen, dass ich überhaupt irgendwas brauche. Tu ich nicht. Oder dass ich auf einer Seite stehe. Steh ich nicht. Oder dass ich mich auf eine Seite schlage. Ich schlag mich nicht. Was geht mich das an, was der macht oder sagt?

 

Er läuft mir nach, später, an der Straßenbahnhaltestelle. „Danke“, sagt er. „Wofür?“, frage ich. „Na für vorhin“, sagt er, und wann wir uns zusammensetzen wollen, fragt er, und ob ich eine Idee hätte, fragt er, und wie wir das möglichst runterbiegen könnten, fragt er. Bin ich Google? „War nichts“, sag ich, und „Ich mach schon“, sag ich, und lasse ihn stehen. Ich mach eh immer alles. Allein. Ich mach es ganz sicher allein.

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