Agnes
Buchstabensuppen. Ein literarisches Kochbuch. Hrsg. v. Bernhard Studlar. Wiener Wortstätten.
Salzburg/Wien: Residenzverlag 2015
Aus dem Nebenzimmer dringt Musik. Nicht laut, aber störend, so, dass sie gegen die Wand drückt, durch den Spalt unter der Tür, im Vorzimmer auf den Fliesen entlangkriecht, bis hin zu mir, auf dem Sofa im Wohnzimmer, warum dreht Agnes nicht leiser? Ich möchte aufspringen, sie anschreien, was gäbe es zu sagen, zu schreien, in welchem Ton schreit man, wenn sich die Stimme überschlägt, vor lauter Toben und dieser unbändigen Wut, die meinen Körper durchwatet, die ich an keiner Stelle festmachen kann, mal zuckt das linke Augenlid, wie so ein Tick, dann brennen die Zehen, wie so ein Pilz, dann juckt die Haut über dem rechten Ellbogen und ich kratze sie blutig, wie so ein Scheißwimmerl.
Es ist ein Tick, ein Pilz, ein Wimmerl in diesem Zimmer. Dem Zimmer zum Hof, dem ich den Rücken zukehre, hier, auf dem Sofa, das schon Dellen haben muss, vom vielen Reingraben, vom vielen Dagegentreten, Reinheulen, Verschwindenwollen. Wieso dreht Agnes die Musik nicht leiser? Wieso dreht sie sie überhaupt auf, wo sie doch weiß, ich hasse das, suche die Stille, das Schweigenwollen, in der Sofadelle, die meine Beckenknochen ausdauernd vergrößern, mit jedem Monat ein paar Zentimeter mehr Delle und ein paar Zentimeter weniger Fleisch. Ich möchte aufspringen und in Agnes‘ Zimmer gehen, das Kabel aus der Steckdose reißen, das CD-Deck langsam rausfahren lassen und dann herausbrechen, die CD auf dem Parkettboden eine Kerbe schlagen lassen, mein heiliger Parkett, eine weitere Kerbe, bis sie so auf dem Holz aufliegt, dass es wieder Fingernägel braucht oder ein Messer, um sie vorsichtig vom Boden zu lösen, den Nagel oder das Messer zwischen die Scheibe und das Holz schieben, dann schnell, mit Gefühl hochheben und geschickt mit der anderen Hand auffangen. Ich habe meine Nägel abgekaut, bis zum Nagelbett, die Haut an den Rändern und der Fingerkuppe auch, und das Buttermesser kratzt so viel von der Fugenversiegelung ab, dass weiße Fahrer im Holz bleiben werden, also nein.
Nimm einen Kaugummi, sagst du, nimm einen Kaugummi und pick ihn oben drauf, dann kannst die CD aufheben ohne einen Kratzer zu machen. Du, sag ich, du hast Agnes in dieses Zimmer gesetzt, du hast ihr erlaubt die Musik so laut aufzudrehen, dass sie jetzt durch jede Ritze dringt, und hättest du sie nicht hierhergebracht, müsste ich jetzt nicht am Boden knien und mir überlegen, wie ich die CD dann vom Parkett aufheben könnte, damit jeder Rest, jede Spur von Agnes getilgt ist und kein Kratzer an sie erinnert. Ich höre nichts, antwortest du, nur die Straßenbahn vor dem Fenster und im Hof die ersten Vögel, die Suppe, die gleich überkochen wird, du solltest in der Küche nachsehen, vielleicht den Deckel vom Topf nehmen, ich weiß nicht, was du hast. Und Agnes, sagst du, hast du eingeladen, lange bevor sie mein Zimmer bezogen hat, erinnerst du dich? Und von Agnes, sagst du, hast du nie Miete eingefordert, wann hättest du das tun wollen, fordern, nicht bitten, fürs Bitten war es da schon zu spät, war dir das nicht klar, es hätte dir klar sein müssen, lange, bevor du sie überhaupt hier einziehen hast lassen, dass das die Miete hochtreibt, nicht drückt.
Ich höre dich kaum, sage ich, so laut ist die Musik, oder schreist du aus einem anderen Grund? Ich schreie nicht, sagst du, ich bin zu müde, zu ausgelaugt. Und die Suppe kocht über, sagst du, hörst du das nicht? Ich stehe auf, das Sofa gibt nach, du sinkst tiefer in deine Delle, ich meide deinen Blick, kann die Suppe riechen, nicht hören, das verbeiße ich mir. In der Küche steht Agnes. Zwischen Esstisch und Herd Agnes, mit ihrem Teller in der Hand.
Agnes isst für zwei. Bevor sie noch ihren Teller fertig hat, springt sie auf, geht an den Herd, fährt mit dem Schöpfer bis zum Boden des Topfes und füllt ihren Teller bis zum Rand. Dann nimmt sie ihn in beide Hände, trägt ihn vorsichtig an den Tisch zurück, so, dass die Suppe am Tellerrand entlangschwappt aber nicht auf den Boden tropft, stellt ihn auf dem Tisch ab, fährt mit dem Löffel hinein, noch bevor sie sich hingesetzt hat. Ich habe Agnes nie gefragt, warum sie keine Kopfhörer aufsetzen kann, ich habe sie nie gefragt, warum sie nicht warten kann, bis sie sitzt, sondern noch halb im Stehen den Löffel in den Mund schiebt, sodass er gegen ihre Zähne schlägt. Ich habe ihr nur gesagt, dass ich dieses Geräusch nicht mag. Gemeint habe ich nicht ertrage, aber sie hat das nicht aus meinem Ton deuten können, mich nur verständnislos angesehen, nicht geantwortet und die Zeitung aufgeschlagen, während sie mit dem Löffel die Suppe weiterschaufelte. Agnes hat uns beide gefressen, dich und mich, nicht mit der Gier, mit der sie die Suppe verschlingt. Nein, das hat sie schleichend gemacht, mit derselben Ausdauer, mit der sie sich den zweiten Teller Suppe nimmt. Sie fragt nicht, ob ich kosten möchte, setzt sich wieder an ihren Platz, vielleicht hat sie mich gar nicht bemerkt. Ich möchte sie fragen, ob sie sich erinnern kann, wann sie eingezogen ist und wer sie eingeladen hat. Sie sieht mich nicht an, ich sage nichts. Wahrscheinlich würde sie mich mit diesem Blick von unten ansehen, ihr schiefes Lächeln, und mir mit dem Löffel im Mund zu verstehen geben, na irgendeine hat Schuld, weil wie erklärte ich mir das alles sonst, und dann würde sie mit der Suppe den Rest des Satzes runterschlucken und wieder in ihre Zeitung starren. Ich nehme mir einen Teller aus dem Kasten, fülle ihn halb voll, trage ihn zurück ins Wohnzimmer, sage magst du, das ist für dich. Das Sofa hängt in der Mitte durch, die Delle ist leer.
Hendlsuppe für 1 Person
Zutaten
1 Hendl
1 Bund Suppengrün
1 Bund Petersilie
2 Stück Gewürznelken
1 Stück Lorbeerblatt
Salz
Nimmst das Suppengrün, wuzelst das Gummiband runter, wascht alles, suchst dir aus, mit welchem Gemüse du anfangen magst. Nimmst einen Schäler und radierst von den Karotten und dem Sellerie die Haut runter, drückst und ziehst und schmeisst die Schalenstückerl in den Mist oder legst sie neben das Brett, passt auf, dass noch was übrig bleibt von den Karotten und dem Sellerie, wenn du die Klinge fest reinpresst. Nimmst ein Messer und schneidest alles kurz und klein. Haust alles in den Topf. Nimmst das Hendl aus dem Plastiktazerl, legst es auf ein Brett. Schneidest es in der Mitte auf. Nimmst das Sackerl raus mit den Innereien und dem Zeug. Das haust gleich weg. Schneidest weiter, Formen und Teile wie du willst. Haust alles in den Topf dazu. Nimmst die Petersilie, hackst auf sie ein oder reisst mit den Fingern an den Blättern und zerlegst sie, haust die Hälfte des Haufens auch dazu, die andere Hälfte legst auf einen kleinen Teller und hebst sie auf. Nimmst zwei Gewürznelken und das Lorbeerblatt, haust sie auch dazu. Gießt kaltes Wasser drüber, bis alles gut schwimmt. Tust Salz dazu, rührst um. Drehst den Herd auf, nicht zu hoch, damit die Suppe nicht überkocht, das macht rote Flecken auf der Haut oder Blasen und du hast dir schon wieder selbst weh getan. Haust den Deckel auf den Topf, damit die Flüssigkeit nicht verdampft.
Dann kannst alles stehenlassen. Vier Stunden lang rauchst, schaust in die Luft, hörst Musik, zerdenkst den Augenblick, legst dich hin, liest irgendwas Gescheites. Dazwischen stehst auf und schaust, ob die Suppe eh nicht am Überkochen ist, rührst vielleicht um. Setzt dich wieder hin und lasst sie für sich sein. Wenn sie fertig ist, fangst mit einer Gabel die Hendlteile raus, haust sie aufs Brett und kletzelst das Fleisch runter. Die Knochen schmeisst weg, das Fleisch haust wieder zurück. Nimmst einen Teller aus dem Kasten, holst einen Schöpfer aus der Lade und machst den Teller dreiviertel voll. Streust die frische Petersilie drüber, die du dir weggelegt hast, stellst den Teller auf den Tisch, setzt dich hin und wartest. Spürst, wie die Wärme aufsteigt. Spürst, wie das Weinen hochkriecht. Riechst, wie sich alles zu einem Ganzen gefügt hat.
Wenn du satt geworden bist, stehst auf, frierst die Suppe nicht ein, sondern tust den Deckel drauf, machst die Fenster und Türen auf und schaust, in welchem Fenster im Hinterhof Licht brennt.