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Zucker

Roman

Ein Auszug aus dem Roman »Zucker« wurde 2023 mit dem

Theodor-Körner-Preis für Literatur ausgezeichnet.

Entlang von sechs außergewöhnlichen Frauenleben schildert der Roman die Geschichte eines polarisierenden Lebensmittels – von der Entdeckung des Zuckers als billige Energie über die Zuckerpanik der Gegenwart bis hin zur Vision einer Zuckerbrennstoffzelle.

Die ehemalige Sklavin Mary Prince versucht, sich im frühen 19. Jahrhundert an ein neues, freies Leben in London zu gewöhnen. Dita und ihre Kollegen von der Wiener Kolonialzuckerraffinerie lassen sich 1848 von der Revolutionsstimmung mitreißen und kämpfen für ein besseres Leben. Etwa zur gleichen Zeit setzt die resolute Mathilde für das Familien-Imperium auf die Zuckerrübe und muss dabei nicht nur gegen männliche Widerstände antreten. Mehr als 150 Jahre später arbeitet Paula in einem Start-up an der Entwicklung eines Zuckerladegeräts mit, und auch ihre Tochter Kaja kommt auf den Geschmack des Zuckers …

"Sechs Frauenfiguren zwischen 1828 und heute miteinander zu verweben, deren Leben mit Zucker als Lebensmittel in seiner vielschichtigen Problematik verbunden sind, ist großartig ... eine große Bereicherung der österreichischen Literatur."

(Theodor Körner Preis für Literatur)

Zucker

Roman

Verlag Edition Atelier 2025

ISBN: 978-3-99065-126-1

 

 

Ejo

Überall, jetzt

 

Wäre ich allwissend, wüsste ich: Die Geschichte meiner Schwester begleitet euch. Sie hält euch in unruhigen Nächten wach. Sie schimmert durch eure geschäftigen Tage hindurch. Ihr könnt nicht anders, als euch vor der Geschichte meiner Schwester in Acht zu nehmen. An jeder Ecke lauert so eine Schwester. So eine wie meine. Dabei sind meine Schwester und ich auch nur zufällig dorthin gepflanzt worden, wo wir eben das Licht der Welt erblickten.

Eine grausame, eintönige Welt. Zuckerrohrhalme, wohin das Auge reichte. Grün in faden Schattierungen, drei bis sechs Meter hoch, sodass alles zwischen ihnen verschwand: Menschen, Träume, Sehnsüchte.

Aber auch wir konnten nicht anders, als uns zur Süße hingezogen zu fühlen. Schon das Fruchtwasser, in dem wir heranwuchsen, war so süß wie eine mit einem Löffel Zucker versetzte Tasse Tee. Wie alle Neugeborenen waren wir streng, verweigerten, was nicht diesem Geschmack entsprach und hielten diese Angewohnheit ein Leben lang aufrecht.

Mit Übergewicht, Diabetes und Herzkreislauferkrankungen mussten wir uns nicht herumschlagen. Dafür waren wir nicht lange genug auf der Welt. Die Schläge, das Bücken, das Schleppen bewahrten uns davor. Entfachte der Zucker Entzündungen auch in unseren Körpern, verwüstete unsere Darmflora, schwächte unser Immunsystem und fütterte unsere Krebszellen, so gaben wir ihm nicht die Zeit, sein Werk zu Ende zu bringen. Es konnte uns herzlich egal sein. Wir mussten uns nicht mit siebzig Bezeichnungen abmühen, die ihn auf Etiketten im Kleingedruckten versteckten, ihm wissenschaftliche oder wohlklingende Namen verpassten.

Wir kauten am Zuckerrohr, bis wir die Süße herausgesogen hatten, und bürsteten unsere Zähne mit den rauen Pflanzenteilen. Hätte meine Schwester jemals gelacht, ihr hättet ihre ausgezeichneten Zähne bewundern können. Sie waren kräftiger als die Zähne der Frauen, die zur gleichen Zeit auf euren Feldern kleine Rübensetzlinge in die Erde steckten, nachdem man entdeckt hatte, dass sich das weiße Gold auch aus der Runkelrübe gewinnen ließ. Da war sie geboren, die Stammmutter aller Zuckerrüben, die vielleicht auch auf ihre Weise zur Abschaffung der Sklaverei beitrug. So wie das Buch meiner Schwester dazu beigetragen hatte.

Denn meine Schwester hatte sich durch einen Zufall des Schicksals in die große Geschichte eingeschrieben. Sie hatte etwas von sich auf dieser Welt hinterlassen, das die Jahrhunderte überdauerte. Das von einer zur nächsten Generation überliefert wurde, über Kontinente hinweg. Das junge Menschen in Schulreferaten präsentierten und andere dazu veranlasste, sich auf lange Recherchereisen zu begeben, um herauszufinden, auf welchen Rücken die ausgezeichneten Preise auf dem Weltmarkt zu erbringen waren. Natürlich wusste meine Schwester nichts von alledem. Lange, bevor andere in ihre Fußstapfen traten oder sich auf die Suche nach ihrer Geschichte machten, hatte sie sich auf den Weg zu mir gemacht.

Ob meine Schwester jemals glücklich war? Wenn auch nur für einen flüchtigen, rauschhaften Moment?  Wäre ich allwissend, wüsste ich: Jeder Zuckerrausch ein sanfter, elektrisierender Sturm, der plötzlich über ihren Körper und Geist hereinbrach. Die Süße traf ihre Zunge, wie eine Umarmung. Sie flutete ihren Mundraum, entfaltete sich in Wellen, ließ jede ihrer Geschmacksknospen jubeln. Wenige Augenblicke später spürte meine Schwester, wie die Energie in ihr aufstieg, ihren ganzen Körper erfasste.  Ihr Herz schlug ein wenig schneller, ihre Gedanken rasten. Alles fühlte sich lebendiger, intensiver, ja, fast grenzenlos an. Meine Schwester strahlte.

Kaja

Wien, jetzt

 

Das Zimmer sieht aus. Es hat vier Wände, ein Fenster und eine Tür. Zumindest, wenn man sich daran erinnert. Hinter all dem Zeug. Denn Wände, Fenster und Türen gehen nicht so leicht verloren. Kajas Stimme dringt zwischen den Bergen von Sachen hervor. Von Kaja selbst ist nichts zu sehen.

„Du stehst ein Loch unter den Türrahmen“, sagt sie.

„Auch dem Nachthimmel vor dem Fenster sind heute keine Sterne gelungen“, antwortet Paula. Alles schmierig grau. Dann fügt sie hinzu: „Mach nicht zu lange, es ist schon spät.“

„Aber ich habe doch gerade erst angefangen.“

„Trotzdem. Morgen ist Schule, du musst früh raus.“

„Das sagst du immer.“

Paula möchte dem Kind sanft über den Kopf streichen, ihm einen Kuss auf die Haare geben, es kurz in den Arm nehmen. Wann ist es unter den Kleidungsstücken, Radiergummiresten, Papieren, Jugendzeitschriften und Fahrradzubehörteilen verloren gegangen?

„Algen oder Cyanobakterien“, sagt Kaja. „Hast du schon einmal Cyanobakterien gesehen?“ „Nein.“

„Sie sind grün. Rund. Wie zertretene Erbsen. Zusammengerottet in Gruppen. Also in der Petrischale, unter dem Mikroskop.“

„Macht ihr so etwas in der Schule?“

„Ja.“

„Interessant.“

„Ja. Zucker.“

Was Frances sagen würde, könnte sie Kaja jetzt so sehen? Frances ist irgendwo auf der anderen Seite der Welt. Und diskutiert wichtige Dinge. Wahrscheinlich. Es macht keinen Sinn, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. „Das Bett ist aus Zucker. Der Tisch ist aus Zucker. Das Papier ist aus Zucker. Die Kleidungsstücke sind aus Zucker“, sagt Paula stattdessen.

Kajas Kopf taucht aus dem Berg toter Materie hervor. Ihr Blick ist ungläubig. „Hörst du mir überhaupt zu?“ fragt Kaja.

„Natürlich, meine Süße. Pflanzenfasern, überall.“

„Ah so“, sagt Kaja. Es scheint in ihrem Kopf recht zu rattern, denn ihre Augen bewegen sich unruhig hin und her. Wie sie leuchten. Oder spiegelt sich in ihnen nur das Bildschirmlicht? Kaja dreht sich zurück zum Computer und tippt aufgeregt auf der Tastatur herum.

Paula verlässt ihren Posten unter dem Türrahmen. Watet durch die Gegenstände. Etwas quietscht. Etwas gibt unter ihrem Gewicht nach und zerbirst. Etwas wickelt sich um ihren Knöchel. Etwas drückt die kleine Zehe am linken Fuß unsanft nach außen. Paula unterdrückt ein Stöhnen.

„Wenn du nicht schlafen kannst, leg dich zu mir, gut?“

Nur Kajas stures Tippen. Paula küsst den Kopf des Kindes.

„Danke“, sagt Kaja.

„Wofür?“

„Das ist ein super Anfang für mein Referat“, sagt Kaja im Rhythmus des Tippens. „Also wenn du dir vorstellst. Wie diese Organismen Sonnenlicht umwandeln, um Energie zu nutzen. Licht einfangen, Kohlenstoffdioxid sammeln und Sauerstoff freisetzen. Und das alles wofür?“ Sie breitet ihre Arme aus, als wolle sie jedem Ding in ihrem Zimmer eine eigene Umarmung zugestehen.

Dafür, dass sich das Hirn all diese krassen Dinge ausdenkt, denkt Paula. Dafür braucht es den Zucker. Als Batterie. Treibstoff. Anregung. Ist das nicht ein irrer Kreis?

„Du solltest dann abschalten“, sagt Paula. „Dinge ordnen sich, wenn man schläft.“

„Ja, Mama.“

Paula zieht die Tür hinter sich zu. Eine Straßenbahn rattert draußen vorbei und schluckt das Geräusch von Kajas Getippe. Ein Lächeln huscht über Paulas Gesicht – nur für die sternlose Nacht zu sehen.

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